Psychopharmaka: Ein Erfahrungsbericht entgegen den Vorurteilen
Weiblich, Jahrgang 1968, Versicherungskauffrau, verheiratet, selbständig tätig und Mitarbeiter*in im Tierschutzverein:
„Anfang 1996 merkte ich, dass mit mir was nicht stimmt. Schlaflosigkeit, überall Schmerzen, der Tag erschien zerknüllt wie eine alte Zeitung. Ich wusste nur noch, dass ich zum Arzt musste.
Der war ziemlich jung und hatte die Praxis gerade übernommen. Er verschrieb mir Medikamente und die Sprechstundenhilfe riet mir, dass ich viel laufen solle. Meine Diagnose sagte man mir nicht. Die erfuhr ich vom Beipackzettel. Ich und Depression? Der Doc musste sich geirrt haben! Hatte er nicht.
Einige Blicke in Bücher bestätigten: Ich hatte eine Depression. Ich spürte das körperlich, die Adern brannten, die Nervenenden zappelten förmlich in der Gegend herum und nichts machte diesem Spuk ein Ende. Was tun?
Die Kinder waren zwölf und 17 Jahre alt. Wir hatten gerade begonnen, ein Haus zu bauen! Nichts ging mehr, und das Schlimmste: Ich konnte nicht mehr denken! Ich wollte das alles nicht, ich stampfte auf, suchte nach einem Ausweg.
Da las ich irgendwo den Satz: Patienten mit Krankheitsbewusstsein genesen viel besser. Sofort hatte ich ein Krankheitsbewusstsein. Ich begann, mich mit dem Thema zu befassen. Soweit es eben ging in diesem Zustand. Mein Arzt hatte noch ein zusätzliches Medikament gefunden, damit ich endlich wieder einschlafen konnte, aber er stellte mir auch die Einweisung in die Klinik in Aussicht, wenn wir es so nicht schafften.
Ich erinnerte mich wieder an die Worte der Sprechstundenhilfe und lief und lief und lief. Und schwitzte und duschte drei Mal am Tag, weil dieser Geruch unerträglich war. Erleichterung brachte die Arbeit auf der Baustelle. Den Schultergürtel beanspruchen, schwitzen, im Dreck rumwühlen, sich körperlich erschöpfen, erst mal nichts denken...
Es gab noch nicht so viel Literatur wie jetzt. Ich las, was ich kriegen konnte und redete über meine Krankheit – mit jedem, der es hören wollte. Den Kindern musste man es ja erklären, dem Partner auch. Meine Mutter war in dieser Zeit ganz wichtig für mich. Sie kannte Depressionen aus alten Arztbüchern und sie sagte immer wieder nur den einen Satz: „Das heilt wieder. Hab Geduld Mädchen, das dauert.“
Nahezu besessen suchte ich nach Funken, die darauf hindeuteten, dass es endlich besser würde. Der Arzt hatte sich inzwischen getraut, mir zu sagen, dass ich eine Gemütskrankheit“ hatte. Ich müsse in meinem Leben was ändern. O. K. Also betrieb ich Ursachenforschung. Ich führte Statistik, welches Ereignis zu welcher dunklen Wolke in meinem Gehirn führte, was ich tun musste, damit es besser wurde, ich fand nichts.
Irgendwann ließ ich dann locker und bemerkte, dass es mir besser ging mit einem bestimmten Duft, mit dem Duft der Orange, der Ringelblume, mit einem Wort, das mir jemand sagte. Das baute ich aus. Die Hochs und Tiefs zogen sich auseinander, die Löcher waren nicht mehr so furchterregend. Mehrere Versuche, die Dosis der Antidepressiva zu senken, schlugen bei mir fehl. Ich hatte aber die Ursache für meine Erkrankung gefunden: Stoffwechsel! Einfach zu wenig Transmitter! Also nehme ich die Medikamente weiter. Seitdem lebe ich stabil und sicher und zu jedem Klassentreffen wird mir bestätigt, dass sich meine Persönlichkeit überhaupt nicht geändert hat.“
anonym