„Ich bin es, die das Boot lenkt.“
Behindertenbeauftragte des Landkreises Harz zu Gast in der Tagesstätte zur Förderung der seelischen Gesundheit
Vor Kurzem besuchte Elke Selke, die Behindertenbeauftragte des Landkreises die AWO Tagesstätte zur Förderung der seelischen Gesundheit „Horizont“ in Halberstadt. Die Einrichtung gehört, wie auch das Ambulant betreute Wohnen des AWO Kreisverband Harz e.V., in den Bereich der Eingliederungshilfe bietet Menschen mit seelischen Erkrankungen psychosoziale Unterstützung.
Elke Selke setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Ihr Ziel ist die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention, sowie die Gleichbehandlung und Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung.
Marlen Kramer-Hirtz, Bereichsleitung der Eingliederungshilfe im AWO Kreisverband Harz e.V., und die Behindertenbeauftragte waren sich von Beginn an einig: sie wünschen sich, dass Menschen mit Behinderung nicht lange suchen müssen, um Unterstützung zu bekommen und, dass es Hilfeangebote für Menschen mit seelischer Erkrankung öffentlich benannt gibt.
„Der Rollstuhl ist im Kopf“, so Marlen Kramer-Hirtz. Das sei eine der größten Barrieren für Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen. „Die Betroffenen müssen gehört werden und mit ihrer Stimme erzählen dürfen“, bekräftigt Elke Selke.
Beim Ambulant Betreuten Wohnen der Arbeiterwohlfahrt Harz e.V. (ABW) erzählen die Betroffenen selbst, wie sie die Unterstützung wahrnehmen. Ganz konkret berichtet eine junge Frau in einem Erfahrungsbericht, was Eingliederungshilfe aus ihrer Perspektive gesehen bedeutet.
Die Ausgangssituation vor zwei Jahren: Lisa M. (Name geändert) konsumiert Alkohol und Drogen. Ihr Leben ist durch ständige Klinikaufenthalte geprägt. Zwischenmenschliche Beziehungen bereiten ihr massive Probleme, häufig kommt es zu Konflikten. „Ich habe in den Spiegel geschaut und gehasst, was ich sah“, erinnert sich Lisa M. Sie sei psychisch und physisch am Ende gewesen.
Heute lebt sie in einer hübschen Wohnung in Halberstadt. Seit einem Jahr war kein Aufenthalt in einem Krankenhaus nötig. Beim Blick in den Spiegel kann sie sich selbst erkennen und akzeptieren. „Ich fühle mich physisch fit und auch psychisch gut“, sagt sie. Sie hat Pläne für die Zukunft und ist optimistisch.
„Was in der Zwischenzeit passiert ist, davon möchte ich berichten.
Nach meiner Reha von September bis Dezember 2020 hat sich ziemlich viel verändert in meinem Leben. Als ich aus der Klinik entlassen wurde, ging es mir deutlich besser als vorher. Ich fühlte mich wohl in meiner eigenen Wohnung und habe mir Unterstützung durch die AWO in Form von wöchentlicher Beratung und Betreuung (ABW – Ambulant betreutes Wohnen) geholt.
Meine Hobbys und mein Alltag haben sich grundlegend verändert. Ich habe z.B. angefangen, viel mehr mit Freunden zu unternehmen und mir auch mal was Gutes zu gönnen. Auch meine Beziehung zu meiner Familie hat sich zum Positiven entwickelt und auch die Beziehung zu meinen Kindern und die Beziehung zu mir selbst.
Ich habe viele, mir vorher verloren gegangene Seiten des Lebens wieder entdeckt. Das hat zu teils kleineren aber auch größeren Irritationen geführt. Die Wiederum dazu geführt haben, dass ich gern wieder zu meinen alten Mustern, dem Alkoholkonsum und selbstschädigendem Verhalten gegriffen habe. Doch anders als früher habe ich nun die Möglichkeit gehabt, mit jemandem mein Verhalten zu reflektieren und vor allem wusste ich, es ist jemand für mich da, wenn es mir schlecht geht. So dass ich sagen kann: ja, es gab immer noch zum Teil sehr kranke Momente nach der Reha, aber die Krankheit konnte sich nicht langfristig durchsetzen, weil ich Unterstützung hatte im Kampf gegen sie. Wenn ich diese Unterstützung durch die AWO und meinen Betreuer vom ABW nicht gehabt hätte, wäre ich ganz sicher nicht da, wo ich heute bin. Ich bin überwiegend zufrieden mit mir und stehe in gutem Kontakt zu meinen Gefühlen. Ich liebe es, mit Freunden gemeinsam zu lachen, zu schwimmen, durch die Natur zu gehen, Fahrrad zu fahren. Kein Vergleich zu meinem früheren Lebensgefühl.
So, nun erzähle ich euch etwas mehr über die Betreuung, damit ihr es euch etwas konkreter vorstellen könnt: Wenn ihr euch mit eurem Betreuer trefft, kann es sein, dass ihr Probleme besprecht. Es kann aber auch sein, dass ihr rausgeht, um einfach mal auf andere Gedanken zu kommen oder dass ihr was Organisatorisches besprecht oder etwas im Haushalt macht. Es ist eine sehr individuelle Betreuung.
Ich kann mich z.B. daran erinnern, dass mein Betreuer und ich an einem Tag, wo es mir schlecht ging, einfach mal in den Wald gegangen sind. Wir haben die Umgebung beobachtet und die frische Luft genossen. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick banal, aber es war in der Situation einfach das Beste, was passieren konnte. Ablenkung von meinen sich im Kreis drehenden Gedanken.
Wäre ich allein gewesen, wäre ich ganz sicher nicht rausgegangen. Es war eine Situation in der ich gedacht habe, ich werde meine Wohnung ganz sicher nicht verlassen und mich in die Öffentlichkeit wagen.
Das Schönste am ABW ist aus meiner Sicht die Vielseitigkeit und Natürlichkeit.
Wer sich das Ganze wie eine Therapiesitzung vorstellt, irrt. Mit meinem Betreuer habe ich viel gelacht, es ist in keiner Weise irgendwie steif, so dass ich noch nie das Gefühl hatte, dass ich krank und deshalb in Betreuung bin oder etwa, dass ich mein Leben auf Grund von Krankheit nicht allein in den Griff bekomme. Nein!
Ich habe das Gefühl, es ist ok so. Da ist jemand, der mich im Leben begleitet und das hilft mir. Mein Betreuer hilft mir auch, mich nicht schlecht zu fühlen wegen meiner „kranken Seite“. Er erinnert mich vor allem in kranken Momenten an meine gesunde Seite. An mein eigentliches Ich. Das hilft mir sehr.
Es gab viele schöne und humorvolle Momente, aber natürlich nicht nur. Einmal, als es mir wirklich schlecht ging und ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich tun sollte, war mein Betreuer da, hat mir aufmerksam zugehört und mehrfach eindringlich die Worte wiederholt. Es gibt einen Weg. Ich wusste nicht welchen, aber ich habe ihm geglaubt. Solche Situationen werde ich nicht vergessen. Es gibt ihn, diesen Weg. Das Leben ist und bleibt eine Berg- und Talfahrt.
Vor zwei Jahren glich mein Leben einer Talfahrt, dann ging es schließlich immer schneller bergauf. In der Zeit, wo ich durch die AWO betreut wurde, bis heute, ging es mal auf-, mal abwärts. Jedoch haben die Aufwärtsfahrten überwogen.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass es weiterhin nicht so viele Abwärtsfahrten sein werden. Und dafür werde ich weiter kämpfen. Die Krankheit ist noch da, doch sie ist leise im Hintergrund, klopft ab und zu an, als wolle sie mir sagen: Vergiss mich nicht, ich gehöre auch noch zu dir. Aber: sie hat nicht mehr das Steuer in der Hand. Ich bin es, die das Boot lenkt. Dass es dazu kommen konnte, dafür sind auch die AWO und mein Betreuer verantwortlich.“